Im Tageszentrum Kreativ der VKKJ in Wiener Neustadt werden 40 Klientinnen und Klienten mit Behinderungen wochentags von Montag bis Freitag betreut. Kreativität steht dabei im Mittelpunkt, jede und jeder wird gemäß den individuellen Begabungen und Bedürfnissen gefördert. Ein Team aus Diplom- und Fachsozialbetreuer*innen sowie Helferinnen und Helfer unterstützt die Klientinnen und Klienten bei ihrem Weg zu mehr Selbständigkeit. Einer dieser Helfer ist Kenan Karic. Er berichtet aus der täglichen Praxis:
Selbständigkeit als Lebensgefühl
Selbstbestimmung ist die freie Entscheidung zu Handlungen oder Maßnahmen, die uns im Leben verankern sollen. Doch was ist Selbstständigkeit? Selbstständigkeit ist ein Lebensgefühl, für manchen sogar ein starkes Bedürfnis. Es drückt aus: Ich komme alleine mit einer Anforderung des Lebens an mich zurecht. Dies bedeutet auch: mit einer Behinderung soweit zurechtzukommen, dass man ohne Hilfe eine Problemstellung des Lebens lösen kann. Das vermittelt ein starkes Gefühl der Selbstständigkeit und fördert den Selbstwert.
Für mich, der ich in einem Bereich arbeite, in dem Menschen ständig auf Hilfe angewiesen sind, ist dieses Gefühl beim Beobachten der Entwicklung zu mehr Eigenständigkeit eines der schönsten und lohnendsten überhaupt. Die betreuten Personen sind stolz auf sich, wenn sie feststellen, dass sie auch einmal keine Hilfe brauchen oder ganz eigenständig agieren können.
Als Beispiel sei genannt, wie Klientinnen und Klienten in der Gruppe ihr Frühstück vorbereiten, ohne dass wir Betreuende eingreifen müssen. Aufdecken, abräumen, aufwischen wird fair nach den eigenen Möglichkeiten in der Gruppe aufgeteilt. Das macht gute Stimmung und fördert das Miteinander.
Mehr Selbständigkeit durch Neuentdeckung
Am Anfang steht die Neuentdeckung. Der/die Klient*in findet heraus – teils mit, teils ohne Unterstützung durch die Betreuenden -, was seine/ihre Aufgabe sein soll. Hierzu kann er/sie sich Anregungen und Hilfe durch den Betreuerstab holen. Diese Aufgabe wird dann – so weit möglich – selbstständig gelöst. Das allein erfüllt einen selbst und motiviert, beim nächsten Mal mehr Selbstständigkeit zu entwickeln.
Hilfe dazu kann unterschiedlich aussehen: Manchmal helfen wir Betreuende aktiv mit, in anderen Fällen genügen schon ein paar Worte und die aufrichtige Zuwendung. Oft fehlt zu neuen Handlungen nur der Mut. So auch im Fall unseres Klienten Mario (Name geändert): Als er sich begann, Sticken auszuprobieren, wusste er noch nicht, wie viel Spaß ihm das machen würde. Er hatte Zweifel an seiner motorischen Fähigkeit, die Nadel zu führen. Genau diese Fähigkeit wollten wir aber fördern. Aus „ein paar Mal vorzeigen“ wurde „daneben sitzen und korrigieren“. Heute holt Mario selbstständig sein Stickbild, wenn ihm danach ist.
Fördern, ohne zu fordern
Entscheidend ist, dass kein Eindruck von Zwang entstehen darf. Eine Forderung kann einschüchternd und einschränkend wirken. Unsere Aufgabe ist es daher, zu beobachten, welches Bedürfnis aktuell im Vordergrund steht. So können wir behutsam genau jenes Maß an Hilfe dazugeben, die nötig ist, um die Selbstständigkeit zu fördern.